Unsere Definition bzw. unser Verständnis davon, was Kritischen Denken ist, passt sich laufend unseren theoretischen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen an. Dies ist der Arbeitsstand vom 02.11.2022. Eine neuere Version liegt bereits vor und wird bald upgedatet.
Kritisches Denken ist das Denken über das Denken. Es ist der reflektierte Umgang mit der Fehleranfälligkeit unseres Denkvermögens und der Komplexität unserer Welt.
Kritisch zu denken bedeutet, bei sich selbst anzufangen. Es ist die Fähigkeit, den eigenen Gedankengängen achtsam und schamlos zuzuhören, um bei Bedarf Korrekturen vorzunehmen.
Wer kritisch denkt, gibt die Suche nach einfachen Antworten auf, trifft selbstbestimmtere Entscheidungen und macht ein neues Miteinander möglich. Im kritischen Austausch mit anderen geht es nicht mehr darum, die eigene Meinung durchzusetzen oder darum Recht zu behalten, sondern darum, die eigene Weltsicht verständlich zu machen, sich zu bemühen, das Gegenüber zu verstehen* und dabei Gräben zu überwinden.
*Einen anderen Menschen zu verstehen, heisst nicht seiner oder ihrer Meinung zuzustimmen oder Verständnis dafür zu zeigen. Es bedeutet Erklärungen zu finden, warum eine Person anders denkt oder handelt als wir.
SKILL 1
INNERE SICHERHEIT
Was muss ich über meinen Körper und meine Grundbedürfnisse wissen, damit ich Wege finde, Unsicherheiten im Aussen auszuhalten?
1.1
Einsicht: Emotionen sind erlernte Konzepte, die unsere Sicht auf die Welt einschränken.
Fähigkeit: Ich kann meine persönlichen emotionalen Konzepte reflektieren, hinterfragen und bei Bedarf neu auslegen.
1.2
Einsicht: Der Zustand unseres Körpers bestimmt, ob wir kritisch denken können.
Fähigkeit: Ich kann den Zustand meines Körpers wahrnehmen, einschätzen, ob mein Nervensystem angemessen reagiert und mich ggf. regulieren.
1.3
Einsicht: Unsere Bindungsfähigkeit beeinflusst, wie gut wir Unsicherheit aushalten können.
Fähigkeit: Ich kann Beziehung gestalten, in denen ich und mein Gegenüber uns als ganze Menschen zeigen können.
SKILL 2
INTELLEKTUELLE DEMUT
Was muss ich über die Verarbeitungsprozesse meines Gehirns wissen, damit ich fehlerhafte oder verkürzte Denkprozesse erkennen kann?
2.1
Einsicht: Unser Hirn ist ein kognitiver Geizkragen, der gedankliche Abkürzungen liebt. Diese können wir nicht kontrollieren, sondern nur korrigieren.
Fähigkeit: Ich kann meinen Gedanken schamlos zuhören und bei unangemessenen Abkürzungen alternative Gedankengänge entwickeln.
2.2
Einsicht: Wir können sehr intelligent sein und trotzdem unkritische Entscheidungen treffen.
Fähigkeit: Ich reflektiere nicht nur meine Entscheidungen, sondern hinterfrage auch die Ziele, die ich mit diesen Entscheidungen zu erreichen versuche.
2.3
Einsicht: Vieles, was wir für unsere eigene Meinung halten, sind eigentlich Überlieferungen.
Fähigkeit: Ich bin mir und anderen gegenüber ehrlich, was die Reife meiner Meinungen betrifft und bin in der Lage, meine Meinung zu ändern.
SKILL 3
INFORMATIONEN EINORDNEN
Was muss ich über die Welt, über die Wissenschaften und über die Entstehung von Wissen wissen, damit ich Informationen einordnen kann?
3.1
Einsicht: Unser Hirn kann «Fakten» nicht objektiv wahrnehmen, sondern gewichtet und interpretiert Informationen so, dass sie unser Weltbild bestätigen.
Fähigkeit: Statt über «Fakten» zu streiten, führe ich Gespräche über die dahinterliegenden Überzeugungen und Werte.
3.2
Einsicht: Wir haben ein gefährlich ungenaues Verständnis von Wahrheit und wissen daher nicht, bei welchen Informationen Zweifel angebracht ist.
Fähigkeit: Ich reflektiere nicht nur meine Entscheidungen, sondern hinterfrage auch die Ziele, die ich mit diesen Entscheidungen zu erreichen versuche.
3.3
Einsicht: Wir neigen dazu, «der Wissenschaft» entweder blind zu misstrauen oder blind zu vertrauen, da wir zu wenig darüber im Bilde sind, wie Wissen entsteht.
Fähigkeit: Ich vertraue auf die Wissenschaft, indem ich ihr stets skeptisch gegenüber stehe.
SKILL 4
UNIVERSELLE EMPATHIE
Was muss ich über unsere menschliche «Natur» und das Leben anderer Menschen wissen, damit ich mit Andersdenkenden sprechen und sie besser verstehen kann?
4.1
Einsicht: Wir sind selektiv empathisch. Empathie über unsere eigene Gruppengrenze hinaus ist reflexive Schwerstarbeit.
Fähigkeit: Ich bin mir meiner selektiven Empathie bewusst und versuche eine gemeinsame Menschlichkeit auch ausserhalb meiner Gruppe zu sehen.
4.2
Einsicht: Wir leben in abgetrennten Lebensrealitäten, die so unterschiedlich sind, dass wir die Meinung Andersdenkender nur schwer nachvollziehen können.
Fähigkeit: Ich versuche andere Lebensrealitäten kennenzulernen und halte mir stets vor Augen, dass es in dieser Welt mehr gibt als meine Perspektive.
4.3
Einsicht: Es ist für uns bequemer, vom Schlechten im Menschen auszugehen, als nach Erklärungen für bestimmte Denk- und Verhaltensweisen zu suchen
Fähigkeit: Ich versuche, vom Guten im Menschen auszugehen und zu verstehen, welche Lebensumstände und Weltbilder zu unguten Handlungen führen. Dabei kann ich zwischen Verstehen und Verständnis unterscheiden.
SKILL 5
SPRACHLICHE SORGFALT
Einsicht: Unsere Wahrnehmung der Welt, wird stark von Sprache beeinflusst. Und die meisten unserer Meinungsverschiedenheiten beruhen auf sprachlichen Missverständnissen.
5.1
Einsicht: Mit Sprache ordnet unser Hirn die Welt. Mit Sprache lässt sich also auch unser Denken und unsere Sicht auf die Welt beeinflussen.
Fähigkeit: Wenn ich etwas lese, schreibe, sage oder höre, versuche ich, Deutungsrahmen zu erkennen, deren Wirkung zu reflektieren und meine Sprache je nach Fall anzupassen.
5.2
Einsicht: Ausgerechnet das Werkzeug, mit dem wir Probleme zu lösen versuchen, erzeugt Missverständnisse und kreiert Konfliktlinien, wo vielleicht gar keine wären.
Fähigkeit: Ich frage nicht nur bei Fremdwörtern, sondern bei allen gesprächsrelevanten Begriffen nach, um sicherzugehen, dass ich und mein Gegenüber uns nicht missverstehen.